Sakramente als einladende „Hotspots“ der Treue Gottes in einer sich wandelnden Welt

von Markus Weißer

Wir leben in spannungsvollen Zeiten der Veränderung und des Wandels, in denen vermeintlich Selbstverständliches neu in Frage gestellt und in Bewegung gebracht wird. In solchen Zeiten suchen Menschen nach tragfähigen Zeichen der Hoffnung, der Sicherheit, der Orientierung und des Vertrauens, um zuversichtlich leben zu können. Können sie in den Sakramenten der Kirche solche Zeichen finden, die Kraft und Trost von Gott her schenken und das Leben durch alle Höhen und Tiefen begleiten?

Nicht nur Debatten um die Amtstheologie angesichts des sexuellen Missbrauchs in der Kirche oder um die Feier der Buße und die Möglichkeit zur Absolution angesichts schwerster Sünden, sondern auch die Nöte wiederverheirateter Geschiedener, Segensfeiern für homosexuelle Paare oder aber die Frage nach der Zulassung zur Eucharistie im Bereich der Ökumene zeigen, dass in aktuellen Reformdebatten der Kirche immer wieder die Theologie der Sakramente berührt und kritisch angefragt wird. In der theologischen Diskussion zeichnen sich derzeit verschiedene Schwerpunkte und Desiderate ab, die hier kurz skizziert werden sollen.[i]

1) Eine Frage theologischer Prioritäten: Werkzeuge des Heils

Die vielfältige sakramentale Praxis sowie Lehre der Kirche verlangen nach einer theozentrischen und damit auch soteriologischen Fokussierung. Das heißt, dass die erlösende Bedeutung der Gegenwart Gottes für die Menschen in ihrer jeweiligen Zeit und Lebenssituation im Zentrum stehen muss, um eine sakramentale Begleitung ihres Lebens auch unter veränderten Umständen je neu zu ermöglichen. Aus theologischer Sicht geht es primär nicht um die (juristische) Frage nach der „Gültigkeit“ oder „Rechtmäßigkeit“ von Sakramenten, die kirchenpolitisch noch viele Debatten dominiert. Es geht vielmehr um die soteriologische Auswirkung, d. h. um die heilsame Funktion der Sakramente für das Leben der Menschen. Als wirksame Zeichen und Werkzeuge des Heils (sotería) dienen die Sakramente der Vermittlung einer lebendigen Beziehung zu Gott, der Schöpfung und den Mitmenschen. Die universale Liebe, die Gott ist, soll in ihrer Treue und Tragfähigkeit inmitten von Freude und Hoffnung, aber auch angesichts von Trauer und Angst real spürbar werden. Jene performative und operative Dimension der Sakramente muss so verständlich gemacht werden, dass diese existenzielle und lebensdienliche Veränderungen ermöglichen und im Laufe der Zeit begleiten. Dabei wird man die kritische Frage stellen müssen, ob die soteriologische Funktionalität und die Ausrichtung auf die befreiende Selbstzusage Gottes aktuell tatsächlich das leitende Kriterium bei der kirchlichen Ausgestaltung von Sakramenten sind.

2) Der universale Heilswille Gottes als (selbst-)kritischer Maßstab

Christliche Identität ergibt sich nicht durch diskriminierende Aus- und Abgrenzung, sondern durch den Mitvollzug der universalen Heilszusage Gottes, seines menschgewordenen Wortes, das sich an alle Menschen richtet. Alle Sakramente, die in Jesus Christus gründen, sind auf die objektive Entgrenzung des Heils bezogen, sodass sich jede Form von Ausgrenzung oder auch kirchenrechtlicher Reglementierung vor der unbegrenzten Barmherzigkeit des Gekreuzigten und Auferstandenen rechtfertigen muss. Sie bleibt ein kritischer Maßstab für alles kirchliche Handeln. Der universale Heilswille Gottes und seine heilsame Zuwendung zu allen Menschen gehen jeder sakramentalen Feier voraus und sind nicht exklusiv auf diese beschränkt. Die Kirche stellt das Heil nicht her, sie will vielmehr einen spürbaren Zugang dazu vermitteln. Da Gottes Selbstzusage dem menschlichen Handeln und damit auch der Kirche vorausgeht, darf diese sich nicht als „Zollstation“ oder „Kontrolleurin der Gnade“ (Papst Franziskus) missverstehen. Die Sakramente dienen der wirksamen Wahrnehmung der unverfügbaren Nähe Gottes, die jedem menschlichen Leben von Anfang an geschenkt ist und hier bewusst gefeiert wird. Wie können dann aber Bedingungen für den Empfang der Sakramente formuliert werden, wenn diese doch die unbedingte Liebe und Barmherzigkeit Gottes erschließen? Papst Franziskus hält darum fest, dass die Eucharistie z. B. keine Belohnung für besonders Fromme sei, sondern ein „Heilmittel“ für die Menschen mit ihren Fehlern und Schwächen.

3) Dynamik und Kreativität des Heiligen Geistes

Im Unterschied zu den Ostkirchen vernachlässigt die westliche Tradition bis heute, auch in der Theologie der Sakramente, die Pneumatologie: Das Wirken des Heiligen Geistes ist nicht auf die Kirche und ihre Sakramente beschränkt. Es steht für eine Dynamik, die statisch gedachte Denkmodelle aufbricht und gegebenenfalls korrigiert. Eine epikletische Dimension innerhalb der Liturgie kann dafür sensibilisieren, dass die Kirche je neu um den Geist Gottes bittet und niemals exklusiv über ihn verfügt. Die Kirche selbst ist (wie alle Sakramente) relativ. Das heißt, sie verweist über sich hinaus auf eine je größere Wirklichkeit, die sie nicht selbst ist, sondern nur dankbar vergegenwärtigen kann, als effektives Medium (vgl. LG 1). Wie kann sich die Sakramententheologie der Unverfügbarkeit und Grenzenlosigkeit des Geistwirkens stellen und auf kreative (dem ‚creator spiritus‘ entsprechende) Weise die fließenden Übergänge zu einer neuen Frömmigkeitspraxis und anderen Lebensentwürfen würdigen? Kann sie die leibhaftige Erfahrbarkeit der Präsenz Gottes durch Christus positiv artikulieren, ohne andere Erfahrungen seiner Nähe abzuwerten? Kann sie, wie in der Vergangenheit, kulturell bedingte Veränderungen im sakramentalen Leben zulassen oder komplementär als Bereicherung wahrnehmen? Kann sie den inneren Zusammenhang von Sakramenten und Sakramentalien bzw. Segensfeiern deutlich machen, insofern hinter diesen einzelnen Feiergestalten immer ein und dieselbe sakramentale Wirklichkeit, nämlich das Mysterium der gott-menschlichen Verbundenheit steht, das in unterschiedlichen Formen vielfältig zum Ausdruck kommen kann? Ein Blick auf die Geschichte der einzelnen Sakramente zeigt deutlich, dass die liturgische Feiergestalt bis zu einem gewissen Grad wandelbar und pluriform ist. Die Grenzen zwischen Sakramenten und Sakramentalien waren und sind fließend. Beides könnte als „sakramentliches“ Handeln verstanden werden, das dazu dient, die Menschen in Freude und Hoffnung, Trauer und Angst zu begleiten (vgl. GS 1). Entscheidend ist der kontinuierlich damit verbundene Gehalt, der nicht an ein starres Korsett invariabler Ausgestaltung gebunden, sondern stets auch kulturell bedingt und wandelbar ist.

4) Keine starre Identität – Differenz von Gehalt und Gestalt

Eine stärkere Berücksichtigung der Rede vom Heiligen Geist kann in der Sakramentenlehre außerdem helfen, die oft schmerzlich erfahrene Spannung von Präsenz und Absenz, Nähe und Differenz zwischen Gott und Mensch sowie zwischen Christus und der Kirche noch klarer zur Sprache zu bringen. Der Gehalt und die Gestalt der Sakramente (die sich geschichtlicher Entwicklung verdanken und sich darum nach wie vor entwickeln können) gehören zusammen, sind jedoch zu unterscheiden. Die Sakramentalität darf als dynamisches Beziehungsgeschehen nicht mit Sakralität im Sinne einer statischen Vergötzung verwechselt werden. Denn die Sakramente stehen nicht für eine unterschiedslose Identität von Zeichen und Bezeichnetem, sondern für eine lebendige Beziehung, für die realsymbolische Verbundenheit (den Bund) zwischen Gott und den Menschen. Sakramentalität kann daher niemals ohne Differenz gedacht werden. Wie schon in der Gott-Mensch-Beziehung Jesu Christi – dem „Ur-Sakrament“ – handelt es sich hier analog um eine Verbundenheit in bleibender Unterschiedenheit. Bereits die Christologie verbietet jede undifferenzierte Gleichsetzung von göttlicher und menschlicher Wirklichkeit, die unvermischt, aber auch untrennbar miteinander verbunden sind. Dies gilt ebenso für die Kirche und ihre Sakramente. Wird diese dynamische Differenz, die zwischen Christus, der Kirche und den Amtsträgern festzuhalten ist, ignoriert, so kommt es zu einer Überidentifikation, die in Aporien und in den von Papst Franziskus kritisierten Klerikalismus hineinführt, der auch eine Wurzel des spirituellen und sexuellen Missbrauchs darstellt.

5) Die ambivalente Rolle der Institution

Das Verständnis der Kirche als Institution ist unter diesen Vorzeichen neu zu reflektieren. Die Bestimmungen der Kirche als Rechtsgefüge einerseits und als gemeinschaftliches Zeichen und Instrument des universalen Heilswillens Gottes andererseits stehen in einer gewissen Spannung zueinander, die im Zweifelsfall soteriologisch und pastoral, nicht aber juristisch aufzulösen ist. In der Missbrauchskrise hat sich gezeigt, dass leider allzu oft nicht die Opfer, die Betroffenen, sondern die Täter geschützt wurden, um eine Institution und ihre Repräsentanten zu verteidigen. Statt um Glaubwürdigkeit und Authentizität ging es dann oft nur noch um formale Autorität. Damit hängt eine problematische Verabsolutierung der Kirche zusammen, die dann nicht mehr in ihrer sakramentalen Funktion an Christus rückgebunden und kritisch an ihm bemessen wird, sondern sich selbst genügt. Wie aber ist der Institutionsbegriff so zu fassen, dass er nicht gegen das Schicksal von Menschen ausgespielt werden kann, sondern sich der potentiellen Vulneranz kirchlichen Handelns bewusst ist, die oft mit der sakramentalen Sendung kollidiert, wenn mehr Wunden geschlagen als geheilt werden? Lassen sich Traditions- und Institutionskritik so mit dem sakramentalen Leben der Kirche verbinden, wie es z. B. im Sakrament der Versöhnung ja ursprünglich sogar angelegt ist? Wie wären dann analog zur Reue und Buße des Einzelnen die entsprechende Rollen- und Gewaltenteilung innerhalb der Institution Kirche zu gestalten, damit ihre sakramentale Funktion wieder fruchtbar und glaubwürdig realisiert werden kann?

6) Kein ritueller Automatismus

In diesem Zusammenhang ist auch die traditionelle Rede vom ex opere operato (der Wirksamkeit des Sakraments kraft seines Vollzugs) in die Krise geraten. Angesichts der Glaubwürdigkeits- und Missbrauchskrise der Kirche können viele Menschen nicht verstehen, dass durch sakramentale Vollzüge objektiv Heiligkeit vermittelt wird, unabhängig von der Würdigkeit der menschlichen Mittler. Ursprünglich sollte durch die Wendung ex opere operato betont werden, dass Gott selbst in den sakramentalen Vollzügen an uns handelt; dass seine Zusage unabhängig von der Perfomance seiner Diener besteht. Doch bleibt das Problem, dass dies in objektivierter Rede zur Sprache gebracht wird, die heute oft eher befremdet, als einen personalen Zugang zu Gott zu eröffnen. Hier steht auch die Rede von der Heiligkeit und Sündigkeit der Kirche zur Debatte, die bereits im Umfeld der Vergebungsbitte von Papst Johannes Paul II. diskutiert wurde. Die Maxime des ex opere operato galt ursprünglich dem Schutz der Gemeinde, wenn diese nicht wissen konnte, ob ein Priester, der Eucharistie feiert, ein authentischer Zelebrant und Repräsentant Jesu Christi ist. Aus diesem – so könnte man sagen – Gemeindeschutz („Die Zusage Gottes steht und sie ist euch sicher!“) wird heute möglicherweise eine Art Täterschutz. Wird argumentiert, dass ein Priester aufgrund des character indelebilis, einer unauslöschlichen Prägung, auf ewig Priester bleibt, auch wenn er sich des Missbrauchs schuldig gemacht hat, dann kann er zwar weiter formal „gültig“ die Sakramente feiern – jedoch stellt sich die kritische Frage, ob er die Präsenz Gottes in den Augen der Gläubigen nicht eher verstellt oder für die subjektive Teilhabe an der sakramentalen Feier ein schweres Hindernis (obex) darstellt. Als zunehmend problematisch gilt zudem die Rede von „Spendern“ der Sakramente, die der gemeinsamen Feier innerhalb einer Gemeinde kaum gerecht wird. Der CIC spricht von Dienern (ministri). Der Dienst (administratio) an der Vermittlung der Beziehung von Gott und Mensch wie auch der Menschen untereinander zielt nicht auf einseitige, gönnerhafte Spendung, sondern auf aktive Teilhabe, die involviert.

7) Sakramente und neue Formate im digitalen Zeitalter

Die in den Sakramenten leibhaftig realisierte Präsenz und Treue Gottes wirft im digitalen Zeitalter die Frage auf, wie der Zusammenhang von Sakramentalität bzw. Mysterium und Medium zu verstehen ist. Mediale Entgrenzung und Bindung an die leibhaftig feiernde Gemeinde führen – nicht erst seit der Pandemie – zu neuen Fragen. Welche performativen Formate zwischenmenschlicher Nähe kann die Kirche für digitale Räume und darüber hinaus entwickeln, die es erlauben, die spürbare Präsenz Gottes im Heiligen Geist medial zu vermitteln, ohne sofort zu regulieren oder auszugrenzen? Gelingt es, die leibhaftige, inkarnierte Dimension der Gnade so zu öffnen, dass Weltkirche und Kirchen vor Ort enger miteinander verbunden sind, als es bisher denkbar war? Und wenn die Abgrenzung der traditionellen Sakramente zu anderen Vollzügen ohnehin nicht trennscharf zu ziehen ist (und in der Theologiegeschichte nur schwer gezogen werden konnte), weil Gott sich nicht auf die amtlichen Feiern der Gemeinde begrenzen lässt, dann gilt, mit Papst Franziskus gesprochen, dass wir nicht über Gottes Transzendenz verfügen und bestimmen können, wo Gott gegenwärtig wirkt und wo vielleicht nicht. Das Mysterium der Verbundenheit von Gott und Mensch, das der christliche Glaube als eine frohe und erlösende Botschaft feiert und allen Menschen verkündet, kann auf vielfältige Weise und auch durch neue Medien nahegebracht werden. All diese Ausdrucksgestalten müssen sich aber an den tradierten „Hotspots“ des christlichen Glaubens und Lebens – den sieben Sakramenten – orientieren und im Zweifelsfall normieren lassen, insofern hier ein und dasselbe Mysterium an existentiellen Knotenpunkten des menschlichen Lebens in intensivierter Konkretheit vergegenwärtigt wird. Die sieben Sakramente bleiben daher das sicherste „Unterpfand“ (sacramentum) der unwiderruflichen Selbstzusage Gottes, die dank Christus in ihrer eschatologischen Endgültigkeit und universalen Offenheit vorgegeben ist. Dieses konkret greifbar gewordene Wort spricht alle Menschen einladend an, damit sie selbst im Geiste Jesu seinem Beispiel folgen und in einer Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe ihre eigenen, kreativen Wege in seiner Nachfolge suchen und finden.

Zum Autor:

Dr. Markus Weißer, ist akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte der katholischen Fakultät an der Universität Regensburg. Seine Habilitation verfasst er zum Thema: Dynamik der Dogmenhermeneutik – Der biblische Kanon als Paradigma. Darüber hinaus sind seine weiteren Forschungsschwerpunkte: die Soteriologie in trinitarischer Entfaltung, das christliche Erlösungsverständnis im Wandel der Zeit und in seiner heutigen Rezeption, die Theologie Karl Rahners, Ekklesiologie, insbesondere bei Papst Franziskus sowie fundamentale Fragen der Theologie angesichts digitaler Kommunikation u.v.m.

Fußnoten

Fußnoten

[i] Dieser Beitrag stellt eine aktualisierte und adaptierte Version des folgenden Artikels dar: https://www.feinschwarz.net/baustellen-der-sakramententheologie/. Als weiterführende und vertiefende Literatur vgl. außerdem: Dirscherl, Erwin/Weißer, Markus (Hg.), Wirksame Zeichen und Werkzeuge des Heils? Aktuelle Anfragen an die traditionelle Sakramententheologie (QD 321), Freiburg i. Br. (Herder) 2022; Weißer, Markus, Was ist eigentlich ein Sakrament?, in: Dirscherl, E./Weißer, M., Dogmatik für das Lehramt. 12 Kernfragen des Glaubens, Regensburg (Pustet) 2019, 207-222.